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Politik in Schweden - Teil 2

Von Coronatests über genderneutrale Toiletten zu einem Nato-Beitritt: Eindrücke einer Austauschstudentin zur schwedischen Politik - Teil 2

Migration und Rechtsradikale

„Pass auf dich auf!“, war eine Nachricht, die ich von zuhause erhielt, als Schweden wieder einmal wegen einem kriminellen Vorfall in den weltweiten News landete. Im März wurden nämlich in Malmö zwei Frauen an einer Schule von einem Schüler erstochen. Solche Vorfälle schaffen es immer wieder in internationale Headlines. Weshalb, ist mir nicht ganz klar. Skandinavien ist einerseits als sehr sichere Region bekannt, und andererseits häufen sich in letzter Zeit die Meldungen von kriminellen Vorfällen in Schweden. Einige bringen dies mit den Migrant*innen in Schweden in Verbindung. Besonders in Malmö gibt es einige Viertel, welche als sogenannte „Problemviertel“ bekannt sind und von welchen in den Medien immer wieder gesprochen wird. Eines davon ist Rosengard, die Heimat des berühmten schwedischen Fussballers Zlatan Ibrahimovic.(*1) Ich war nie dort, aber ganz in der Nähe, weil ich beim Migrationsamt meine Aufenthaltsbewilligung machen musste. Ich weiss nicht, wie viel an den Geschichten über Rosengard dran ist und wie es wirklich um die Sicherheit in Schweden steht. Ich kann nur sagen, dass ich mich nie unwohl gefühlt habe, insbesondere auch als junge Frau nicht. Auch bezüglich Diebstahls machte ich mir nie Sorgen. Viele meiner Freund*innen erlebten Schweden als sicherer im Vergleich zu ihren Heimatländern. Ich würde sagen im Vergleich zur Schweiz ist das Gefühl etwa ähnlich, wenn nicht sogar auch etwas besser, gerade auch in Lund.

 

Ich sage nicht, dass man solche Ereignisse wie an der Schule in Malmö nicht ernst nehmen sollte. Aber ich finde, dass man den Anti-Migrations-Stimmen, welche jeden dieser Vorfälle wie gefundenes Fressen aufnehmen, nicht allzu viel Raum lassen sollte. Und nicht nur Rechte fallen darauf rein: Erst kürzlich schlug der schwedische Minister für Migration, ein Sozialdemokrat, vor, in gewissen Stadtteilen eine Obergrenze von 50% für Menschen mit „nicht-nordischem Ursprung“ zu machen.(*2) Als „nicht-nordische“ Person, welche ein halbes Jahr in einer schwedischen Stadt gelebt hat, finde ich diesen Vorschlag sehr daneben. Grösstenteils kommt aber die Hetze gegen Ausländer*innen von rechts, genauer gesagt von den „Schwedendemokraten“. Diese wurden 1988 gegründet und haben inzwischen 17.53% im schwedischen Parlament! Offenbar sind sie vor allem in Schonen, also in der Provinz wo ich war, beliebt. Ihre Parteifarben sind gelb und blau, so wie die Farben von Schweden.(*3) Wenn ich an einem Ort vorbeilief, wo Standaktionen von politischen Parteien stattfanden, waren neben den „normalen“ Parteien wie der sozialdemokratischen Partei und den Liberalen auch immer die „Schwedendemokraten“ sehr präsent. 

 

Auch wenn Skandinavien eine offene, vernetzte Region ist, werfen die Krisen der letzten Jahre ein bisschen einen Schatten darüber. In letzter Zeit werden wieder mehr Grenzen kontrolliert und man sollte für jede Zugfahrt über die Brücke zwischen Dänemark und Schweden einen Ausweis dabeihaben. Kontrolliert wurde ich, wenn ich mich richtig erinnere, aber nie.

Sozialdemokratie und Arbeiter*innenrechte

Zum Thema Politik in Schweden wurde ich gefragt: „Wie fucked up ist die Sozialdemokratie dort?“ Die sozialdemokratische Partei Schwedens ist nicht das, was ich mir unter einer wirklich linken Partei vorstelle. Einige Beispiele wurden bereits erwähnt: Eine fahrlässige Coronapolitik, ein unkritischer Nato-Beitritt, eine Anbiederung an die Rechte beim Thema Migration. Trotzdem möchte ich das Ganze noch etwas historisch einordnen: 

 

Im Jahr 1987, ein Jahr nach der Ermordung ihres Ministerpräsidenten Olof Palme, richtete sich die Sozialdemokratie in Schweden neu aus: Der kollektive Parteianschluss über den Gewerkschaftsapparat wurde abgeschafft und die Partei glaubte, sich dem neoliberalen Paradigma anpassen zu müssen. Damit begann eine Neoliberalisierung Schwedens, zum Beispiel mit Privatsierungen von Staatsunternehmen und Steuersenkungen. 1991 verloren dann die Sozialdemokrat*innen die Wahl und gelangten 1994 zurück an die Macht. In dieser Zeit gab es in anderen Ländern ähnliche Entwicklungen, bei der sich die Ausrichtung von sozialdemokratischen Parteien in Richtung Neoliberalismus bewegte, z.B. mit „New Labour“ in Grossbritannien. Die neue Ausrichtung der Sozialdemokrat*innen in Schweden führte dazu, dass die Linkspartei (Vänsterpartiet) sich als „Sozialdemokrat*innen von damals“ profilieren konnte und in den Wahlen 1998 ganze 12% erreichte. Die Linkspartei konnte dank ihrer Macht im Parlament den Druck auf die Sozialdemokratie erhöhen und den Abbau des Wohlfahrtsstaates verlangsamen.(*4) Wenn ich mir die Werbung der Vänsterpartiet und auch ihrer Jungpartei anschaue, passt das viel eher zu meinem linken Weltbild, als das, was die Sozialdemokratie von sich gibt. 2006 verlor die Sozialdemokratie in Schweden die Wahlen, kehrte aber dann 2014 mit einer Koalition wieder in die Regierung zurück, seit 2018 unter anderem zusammen mit der Zentrumspartei.(*5)

 

Wie sieht es jetzt also mit der Situation der Arbeiter*innen aus? Skandinavien ist dafür bekannt, dass viele Arbeitnehmende durch einen Gesamtarbeitsvertrag geschützt sind. In Dänemark sind dies im privaten Sektor 77%, in Schweden sogar 90%.(*6) In Schweden ist zudem die ganze Kultur rund ums Arbeiten etwas anders als in der Schweiz: Es ist normal, bei Krankheit zuhause zu bleiben und sich nicht sogar noch mit Fieber ins Büro zu schleppen (übrigens ist meine Theorie, dass genau deswegen die Coronapandemie dort nicht komplett eskalierte). Es gehört in Schweden zum Alltag, zwischendurch eine „Fika“ (=“Zvieri“, bestehend z.B. aus einem Kaffee und einer Zimtschnecke) zu nehmen, am liebsten gleich morgens und nachmittags – im Vergleich zum Znüni und Zvieri in der Schweiz wird der Fika in Schweden in meiner Wahrnehmung mehr Bedeutung zugemessen. Und trotzdem sind die Arbeitsbedingungen in Schweden nicht nur gut. Von Schonen aus gehen einige Menschen nach Dänemark arbeiten, es ist ja bloss eine Zugreise über die Brücke und die Löhne sind höher.(*7) Im Vergleich zu Schweden ist die Schweiz ein sozialistisches Paradies, was Ladenöffnungszeiten angeht: Mein Ica (Supermarkt-Kette) war jeden Tag von 07.00-22.00 Uhr geöffnet, ausser am Sonntag, dann „nur“ von 09.00-22.00 Uhr! 

Schweden - schön, trotz allem ♥️
Schweden - schön, trotz allem ♥️

Zurück in die Schweiz

Nun ist ein halbes Jahr seit meiner Ankunft in Schweden und meinem gescheiterten Versuch, an einen PCR-Test zu kommen, vergangen. Inzwischen bin ich wieder in der Schweiz und sah dieselbe Freundin wieder, die damals Corona hatte. Dieses Mal war ich diejenige, die kurz nach dem Treffen positiv getestet wurde, was hier in der Schweiz auch wieder problemlos mit einem PCR-Test möglich war. 

In meinem halben Jahr in Schweden habe ich viel gelernt, nicht nur kochen und waschen, sondern eben auch über die Politik. Ich merkte, wie frustrierend es ist, nicht ganz „Teil des Systems“ zu sein und nichts daran ändern zu können, egal wie fest es mich stört. Ich wollte in Schweden eine Politikpause machen, was mir mehr oder weniger gelang. Ich wollte aber auch herausfinden, ob ich die Politik ganz hinschmeissen will, und hier ist meine Antwort: Ganz sicher nicht! Auf gar keinen Fall will ich aufhören, zu ändern was mich stört.

Quellen

  1. https://www.20min.ch/story/zlatans-heimat-ist-eine-no-go-zone-601409089834
  2. https://www.thelocal.se/20220801/today-in-sweden-a-roundup-of-the-latest-news-on-monday-59/
  3. https://de.wikipedia.org/wiki/Sverigedemokraterna
  4. Gabriel Kuhn: Die Linke in Schweden – Eine Einführung, 2021, S. 94 ff.
  5. Kuhn, S. 100 f.
  6. Line Eldring and Kristin Alsos: European Minimum Wage: A Nordic Outlook, Fafo report 2012, S. 71
  7. https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_European_countries_by_average_wage

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