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Politik in Schweden - Teil 1

Von Coronatests über genderneutrale Toiletten zu einem Nato-Beitritt: Eindrücke einer Austauschstudentin zur schwedischen Politik - Teil 1

Soziales System und Coronapolitik

„Nein, es tut mir leid, ohne ‚Personal Identity Number’ bekommen Sie bei uns keinen Coronatest“, war die Aussage beim Telefonat mit einem schwedischen Testzentrum. Es war nicht gerade ein super Einstieg für mich, als ich Mitte Januar 2022 in Lund in Schweden meine Zeit als Austauschstudentin begann. Abgesehen vom Heimweh, der Dunkelheit (ca. 5 Stunden Sonne pro Tag), dem Stress und der Überforderung mit allem Neuem war da eben noch diese Sache mit der Omikron-Welle. Diese war gerade ausgebrochen, als mein Austauschsemester langsam aber sicher näherkam und stand bei meiner Abreise einige Wochen vor ihrem Höhepunkt. Trotzdem entschied ich mich für kleine Abschiedsfeste mit den wichtigsten Menschen – und natürlich kam es, wie ihr euch schon denken könnt: Eine Freundin wurde kurz nach meinem Fest positiv getestet. Ich bekam die Meldung, als ich bereits in Lund war. Aber an einen richtigen PCR-Test kam ich nicht. Stattdessen musste ich mich mit Selbsttests zufriedengeben.

 

Alle Selbsttests waren jedoch negativ und krank wurde ich auch nicht. Als dieser erste kleine Schock überwunden war, kam es bereits zu den ersten Ansteckungen in meinem neuen Umfeld. Mehrere meiner Freund*innen in Lund wurden krank und ihre Selbsttests schlugen an. Einige von ihnen konnten dann mit viel Aufwand doch an einen PCR-Test kommen um das Resultat bestätigen zu lassen, trotz fehlender „Personal Identity Number“. Ich blieb gesund, meine Selbsttests blieben negativ und die Fälle in meinem Umfeld nahmen ab.

 

Aber was hat es mit dieser „Personal Identity Number“ auf sich? Sie begleitete mich durch meine Zeit in Schweden, obwohl – oder vielleicht gerade weil – ich keine hatte. Als Student*in bekommt man eine solche Nummer erst nach 12 Monaten Aufenthalt.(*1) Sie wird in Schweden dafür benutzt, die Leute zu identifizieren und entsprechend oft wird nach ihr gefragt, nicht nur beim Corona-Testzentrum, sondern beispielsweise auch für sonstige ärztliche Leistungen. Ich hörte, dass eine Kollegin von mir mit einem verstauchten Fuss aufgrund fehlender Nummer in der Notaufnahme nicht behandelt wurde. Eine andere Kollegin hatte hohes Fieber und musste ziemlich kämpfen, um einen Arzttermin und entsprechende Medikamente zu bekommen. Energie, die einem bei hohem Fieber typischerweise ja eher fehlt. 

 

Wer aber dann mal „im System“ ist, profitiert in Schweden tatsächlich von ausgebauten staatlichen Leistungen: Nicht nur im Gesundheitssystem. Für die Bevölkerung Schwedens ist zum Beispiel auch der Besuch der Uni gratis. 

Eine der weniger Corona-Massnahmen
Eine der weniger Corona-Massnahmen

Wie erwähnt kam ich mitten in der Omikron-Welle in Schweden an und war deshalb überrascht, wie wenig Massnahmen gegen die Verbreitung von Corona ergriffen wurden. Natürlich wurde Schweden in der ganzen Welt als Beispiel für ein Land, in dem es keine Massnahmen gab, genannt. Und trotzdem bereitet dich nach über einem Jahr Maskenpflicht nichts darauf vor, wie komisch es ist, plötzlich die Einzige im Supermarkt oder im Bus mit einer Maske zu sein. Als ich in Schweden ankam, galt für eine kurze Zeit an einigen Orten die „1G-Regel“. Zutritt zu gewissen Veranstaltungen erhielten nur Geimpfte. Doch während der Wochen, in denen die Regel galt, musste ich mein Zertifikat nur etwa zweimal zeigen, also lange nicht für den Eintritt in jedes Restaurant oder jede Bar. Zwei Tage nach meiner Ankunft in Schweden beschloss die Regierung zudem, dass alle Veranstaltungen um 23 Uhr enden mussten. Für Partys auf dem Korridor von Studiunterkünften schien diese Regel allem Anschein nach nicht zu gelten... An meinem ersten Tag in Schweden wurde mir erklärt, weshalb es hier nicht viele Coronamassnahmen gibt: „We believe in society.“ Naja... Inzwischen wird der schwedische „Corona-Sonderweg“ hart kritisiert. Eine Expert*innenkommission kritisiert das Zögern der schwedischen Regierung, welche vor allem zu Beginn der Pandemie im Jahr 2020 kaum bzw. zu spät Massnahmen beschloss. Dies führte zu deutlich höheren Todeszahlen als in den anderen skandinavischen Ländern. Der schwedische König sagte sogar: „Wir haben versagt“.(*2) Ich gebe ihm Recht.

Ukraine und Nato-Beitritt

Nach der Omikron-Welle und der Aufhebung aller Coronamassnahmen war das zweite Thema, welches politisch den Alltag während meinem Aufenthalt in Schweden prägte, der Krieg in der Ukraine. Am 24. Februar 2022 war ich auf dem Weg Richtung Göteborg in meine ersten Kurzferien während des Auslandsemesters. Am Morgen, kurz nach dem ich aufwachte, las ich bereits die News: Russland ist in die Ukraine einmarschiert. Der dritte Weltkrieg stand gefühlt kurz vor der Tür, und ich war weit weg von zuhause. 

Die Premierministerin Magdalena Andersson reagierte schnell und trat vor die Bevölkerung: „Habt keine Angst. Aber bleibt informiert.“ Weil ich ernst nehme, wenn die Regierung mir etwas sagt, informierte ich mich. Schweden und sein Nachbarland Finnland sind beide nicht in der NATO. Es vergingen nur wenige Tage nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine und ich hörte, russische Kampfjets seien in den schwedischen Luftraum über der Insel Gotland eingedrungen. Es kam noch ein paarmal vor, doch es passierte nichts. Während dem Kalten Krieg verschickte die schwedische Regierung eine Broschüre namens „If War and Crisis comes“ an die Bevölkerung. 2018 wurde eine Neuauflage verschickt.(*3) Mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine hiess es, man solle sich doch diese Information wieder einmal anschauen. In Schweden gibt es, ähnlich wie in der Schweiz, eine Sirene, welche die Bevölkerung warnen kann. Sie heisst „Hesa Fredrik“ und wird viermal pro Jahr getestet. Der Test am 7. März 2022 war vielleicht - nur knapp zwei Wochen nach Kriegsbeginn - nicht zum günstigsten Zeitpunkt gesetzt. Wir wurden jedoch sowohl von der Uni als auch von unserer Unterkunft informiert: „In view of the global situation, the Swedish Civil Contingencies Agency would like to stress that it is a test.“ Ich verpasste den Test, weil ich zu diesem Zeitpunkt unterwegs an eine Beerdigung in der Schweiz war. Den zweiten Test Anfang Juni bekam ich dann auch mit. Ich hörte die Sirene, allerdings nicht so laut, wie ich es mir von den Sirenentests in der Schweiz gewohnt bin. Ebenfalls ähnlich wie in der Schweiz gibt es in Schweden auch Luftschutzkeller für die Bevölkerung. Ich googelte, wo der nächste Luftschutzkeller von meiner Wohnung aus ist und stellte beruhigt fest, dass dieser nur wenige Meter entfernt war. 

 

Nach Kriegsbeginn in der Ukraine ging es in Schweden und Finnland plötzlich schnell. Die beiden Länder hatten es nun sehr eilig, der NATO beizutreten. Es ging nicht lange, bis sich ein NATO-Mitgliedsstaat kritisch zu Wort meldete: Die Türkei. Warum? Es geht um die schwedische Unterstützung für Organisationen wie die PKK (kurdische Arbeiter*innenpartei) oder die YPG (eine bewaffnete kurdische Miliz). „Kein Problem“, sagte Schweden und stimmte in einem Abkommen am NATO-Treffen der türkischen Forderung zu, ihnen „volle Solidarität und Unterstützung“ bei der nationalen Sicherheit zuzusagen. Kurdische Aktivist*innen in Schweden machen sich nun Sorgen, dass sich ihre Situation verschlechtert und sie allenfalls ausgeliefert werden. Andersson versuchte, zu beruhigen: „Wer nichts mit Terrorismus am Hut hat, muss sich auch keine Sorgen machen.“(*4) Doch wie wir alle wissen, haben verschiedene Staaten ein bisschen eine andere Definition von Terrorismus und man kann sich einiges so zurechtbiegen, wie es gerade passt. Ich habe bis zu einem gewissen Grad Verständnis dafür, dass Schweden und Finnland in die NATO wollen. Die Situation mit Russland ist bedrohlich und wenn russische Flugzeuge über deine Inseln fliegen, ist das nicht so toll, um es mal milde auszudrücken. Trotzdem finde ich es bedenklich, wie schnell und mit welchen Opfern Schweden jetzt diesen Schritt in die NATO macht. Das Beispiel der Türkei zeigt, dass nicht alle Staaten in diesem Bündnis demokratisch und menschenrechtsfreundlich sind. Es wäre schön, wenn man nicht all seine Prinzipien über den Haufen werfen würde, nur um den eigenen Arsch zu retten...

Greta Thunberg und Feminismus

Klimastreik in Lund
Klimastreik in Lund

Pippi Langstrumpf ist lange nicht mehr das einzige berühmte starke Mädchen aus Schweden. Die Klimaaktivistin und Schülerin Greta Thunberg hat im Jahr 2018 eine Bewegung gestartet, dank der heute weltweit Millionen Jugendliche auf die Strasse gehen. Der Klimastreik, oder „Skolstrejk för klimatet“, wie ihn Greta nennt, ist inzwischen wohl allen ein Begriff. Meine Freund*innen und ich hätten gerne einmal mit Greta vor dem Parlament in Stockholm gestreikt, doch der Alltag in Lund ging zu schnell, als dass dieser Traum hätte Realität werden können. Jedoch ging ich einmal in Lund an den Klimastreik, der mir etwas zu „herzig“ und apolitisch war. Es spielte ein Orchester aus „Boomern“ (immerhin spielten sie „Bella Ciao“!) und weil gleichzeitig Waffle Day war, wurden Waffeln verteilt. Das alles wäre ja okay, jedoch hiess es im Voraus man solle Wörter wie „Kapitalismus“ auf den Schildern vermeiden. Das finde ich feige.

Weil es ja nicht reicht, einfach fürs Klima zu protestieren, möchte ich zumindest in einer Hinsicht Schweden ein Kränzchen winden. Im Alltag spürte ich vieles, das fürs Klima getan wird. Der ÖV ist gut ausgebaut, in Lund ist das Velo das verbreitetste Verkehrsmittel, die Altstadt ist fast autofrei. Um in die nächst grösseren Städte zu kommen gibt es Züge, welche auch gar nicht mal so teuer und für Studis noch vergünstigt sind. Von Lund gibt es nicht nur nach Malmö, Kopenhagen und Helsingborg direkte Züge, sondern man kommt sogar bis nach Stockholm ohne Umsteigen. Zudem ist auch das Recycling, wenn auch nicht mein Lieblingsthema, recht gut organisiert in Schweden.

Pride in Lund
Pride in Lund

Ein weiteres Gebiet, in dem Schweden bis zu einem gewissen Grad sicher ein Vorbild ist, ist das Thema (Queer-)feminismus. Schon vor meiner Abreise war ich positiv überrascht, dass ich bei offiziellen Formularen der Uni aus mehr als nur zwei Geschlechtsoptionen wählen konnte. Auch das Hallenbad in Lund besass einen „LGBTQ+“-Umkleideraum, offen für „all genders and no genders“. Die schwedische Sprache besitzt zudem das genderneutrale Personalpronomen „hen“.

Auch Dinge wie Kindertagesstätten und Elternurlaub sind in Schweden ganz selbstverständlich.

Quellen

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